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„Klassenreise ins Mittelalter – Ein Reisebericht einer 4. Klasse

Es ist dunkel im Zelt. Nur wenige Lichtstrahlen bahnen sich Ihren Weg durch die Ritzen. Zwanzig Kinder sitzen dichtgedrängt im Kreis und blicken gebannt auf die Kristallkugel in der Zeltmitte. Wird sie ihnen Auskunft geben können über den Verbleib von Gaukler Medicus?

Was aussieht wie eine spannende Szene in einem Abenteuerfilm ist in Wirklichkeit eine Klassenreise. Allerdings eine ziemlich ungewöhnliche.
Die vierte Klasse einer Grundschule aus dem schleswig-holsteinischen Marne will fünf Tage lang das einfache Leben, wie es im Mittelalter war, ausprobieren. Geschlafen wird in Pfadfinderzelten, gekocht in riesigen Töpfen überm Feuer. Die Idee zu dieser spannenden Zeitreise hatte der hamburger Umweltpädagoge Markus Kristen, der sein Konzept seit fünf Jahren als Klassenreise und als Ferienlager anbietet. Manchmal bekommen die Teilnehmer auch einen Forschungsauftrag mit auf die Reise. Diese Viertklässler sollen herausfinden, ob die Leute schon damals so viel Müll produziert haben. Eine wichtige Frage!

Im Zelt herrscht krabbelnde Spannung. Annika, die Gehilfin des Markus Kristen (im Mittelalter besser als Gaukler Markus Medicus bekannt) beginnt die Zaubervokale zu summen. Die anderen stimmen ein und es erklingt ein eigenartiger zuerst leise, dann kräftiger gesummter Singsang. Der Gesang bricht ab und es ist wieder still im dunklen Zelt. Alle konzentrieren sich auf die Kristallkugel, Annika räuspert sich „Weise Kristallkugel, heute Nacht verschwand unser Freund Markus Medicus. Wir befürchten, dass er von den Männern des Grafen Karl entführt wurde. Wir fragen dich: Wo ist er? Zeige uns, wo er sich aufhält, wissende Kristallkugel!“ Alle warten gespannt auf ein Zeichen.

Dabei hatte altes so gut begonnen! Schon die Vorbereitungen auf die Klassenreise machten so viel Spaß! Aus alten, eingefärbten Bettlaken hatten sich die Kinder einfache Kittel genäht, die den Abbildungen aus den Büchern ziemlich ähnlich sahen. Aus getrockneten Hülsenfrüchten und knorrigen Wurzelstückchen, die sie auf Lederbänder fädelten, hatten sie sich Ketten gebastelt. Auch ihre Namen hatten sie geändert und sich überlegt, welchen Beruf sie in dieser fernen Zeit wohl ausgeübt hatten. Im Mittelalter war ein Großteil der Bevölkerung arme Bauern. Lesen und Schreiben konnten sie in der Regel nicht. Dies war einigen Adeligen, vor allen Dingen aber den Priestern und Mönchen vorbehalten. Die meisten Handwerker lebten in der Stadt. Bäcker, Schmiede, Tuchmacher, Leineweber, Müller und Sattler waren typische mittelalterliche Handwerksberufe.

Das Abenteuer begann, als die Schüler den selbstgebrauten „Zaubertrank“ aus Brombeerblättern, Birkenblättern und frischen Brennnesselspitzen einnahmen, der sie in das Jahr 1297 versetzen sollte. In jenem Jahr hatte ein gewisser Graf Karl in der Nähe seiner Burg eine Rodung geschlagen und suchte nun „frohschaffendes und ehrbares Volk“, das dieses Land besiedeln sollte. Die Bauern und Handwerker, die sich seinerzeit bei Graf Karl meldeten, erreichten die Rodung aus ungeklärten Umständen jedoch nie. Markus Kristen hatte den klugen Plan gefasst, sich mit seinen Abenteurern als eben diese Siedler auszugeben und ihren Platz einzunehmen. Als die neuen „Siedler“, kurz nachdem sie den Zaubertrank getrunken hatten, über eine Brücke gingen und die Rodung erreichten, waren sie angekommen. Angekommen in der alten Zeit…

„Es bewegt sich etwas!“. flüstert Annika und schaut gebannt auf die Kugel. Die Viertklässler holen tief Luft und rücken ein Stück näher heran. „Oh, ich glaube ich kann Markus erkennen“, sagt Stefan Schnitzer mit leicht zitternder Stimme, er sitzt in einem Turmzimmer – und … es hängt ein Wappen an der Wand. Es ist das Wappen des Grafen Karl!“ Annika nickt, “ Wir müssen beratschlagen, was als nächstes zu tun ist – kommt!“

Einige Tage zuvor war Graf Karl plötzlich bei den Siedlern aufgetaucht. Eigentlich wollte er die Neuankömmlinge willkommen heißen, doch dann entdeckter er, dass unter ihnen auch Gaukler und kräuterkundige Frauen waren. Für ihn waren sie schlicht Taugenichtse und böse Hexen. Auf gar keinen Fall konnte er sie auf seinem Boden dulden. Er setzte ihnen eine Frist von zwei Tagen. Bis dahin musste das Volk die Rodung verlassen haben, sonst…..!!!!
Trotz der Drohung des Grafen bewahrten unsere Siedler Ruhe. Hatten sie nicht den Zaubertrank, mit dem sie schneller als ein Augenzwinkern zurück in die moderne Zeit konnten? Vorerst hatten sie aber noch gar keine Lust, wieder zurückzukehren. Auf jeden Fall wollten sie sich noch ein wenig umsehen.

Na ja, weder im richtigen Mittelalter noch auf der Klassenreise wurde in Supermärkten eingekauft. Die Schüler hatten sich zwar einige Lebensmittel (z. B. die unentbehrlichen Nudeln) mit in das Abenteuercamp gebracht. Aber das meiste stammte entweder direkt aus der Natur und wurde von den Kindern eigenhändig gesammelt (wie z.B. Wildkräuter) oder es wurde vom Bio-Bauern, auf dessen Land sie zelteten, angebaut und dann im Hofladen erhandelt. In Körben wurden die „Schätze“ dann zu den Zelten geschleppt.

Gemeinsam überlegen die „Siedler“, wie sie Graf Karl in ihre Nähe locken können. Dass Graf Karl zu ihnen kommt, ist wichtig für den Plan, den sie sich ausgedacht haben. Sie wollen ihn dazu bringen, dass er sie zu Markus Medicus führt, damit sie ihn befreien können. Um ihn friedlich zu stimmen, müssten sie ihn allerdings „hypnotisieren“. Annika will dafür wieder einen „Zaubertrank“ brauen. Aber wie sollen sie den Grafen bloß hierherbekommen? – „Ich hab’s!“, ruft Anna Allerbest, wir schreiben ihm, dass wir einen Schatz gefunden haben! Bestimmt kommt er sofort, um ihn sich zu holen!“ -„Tolle Idee!“, finden die anderen. Schnell werden Gänsefeder und Tintenfass herbeigeholt, um die Botschaft zu schreiben, und auch ein mutiger Bote meldet sich spontan.

Die nächste wichtige Frage tautet: Wer übernimmt welche Aufgabe? Renate Regenbogen (im wirklichen Leben die Klassenlehrerin) bietet sich an Heilkräuter zu suchen und fragt, wer mitkommen möchte. Die Heilkräuter brauchen sie, um den Tee zu brauen, der Stärke und „hypnotische“ Kräfte verleiht.

Nun zu anderen Aufgaben. Allen ist sonnenklar, dass ein warmes Essen für beinahe 30 Leute helfende Hände braucht. Ein mitgereister Vater und ein Junge machen sich sogleich an die Arbeit. Ein riesiger Berg Kartoffeln will geschält werden! Heute soll es Bratkartoffeln geben. Hier draußen gibt es natürlich auch keine Küchenzeile oder ähnliches, deshalb tragen zwei andere Helfer schon die Wanne mit dem schmutzigen Frühstücksgeschirr zum Wasserschlauch, der direkt neben den Holunderbüschen liegt und manchmal auch als provisorische kalte(!) Dusche benutzt wird.

Die kräuterkundige Renate Regenbogen ist mit ihren Gehilfen inzwischen schon im kühlen Wald. Sie haben den Blick auf die verschiedenen Pflanzen, die rechts und links vom Pfad wachsen, geheftet. Innerhalb dieser Tage sind insbesondere Dick Denker und Stefan Schnitzer zu echten Pflanzenkennern geworden. Sie kennen schon viele mit Namen und es fällt ihnen leicht, die für den neuen Zaubertrank benötigten Zutaten zu finden. Irgendwie ist es aber auch spannend, sich mit Heilkräutern zu befassen. Wusstet ihr schon, dass ein Farnkrautblatt müde Wanderfüße erfrischen kann, indem man es sich in die Schuhe legt? Solche und noch viele andere kluge Ratschläge liest Renate Regenbogen aus ihrem schlauen Kräuterbuch vor. Die Kinder spitzen die Ohren, um nichts zu verpassen.

Wieder angekommen bei der „Rodung“ werden alle gesammelten Blätter und Blüten Annika übergeben, die sofort damit beginnt, den Zaubertrank zu brauen. Dann ist es Zeit für‘s Essen. Hmm, die Bratkartoffeln schmecken prima! Mit den Mahlzeiten sind die Schüler ganz zufrieden. Und frisches Quellwasser war im Mittelalter eine Kostbarkeit.

Nach dem Mittagessen ist der Zaubertrank fertig. Wer mag, darf probieren. Franzi Fröhlich, Anna Allerbest und einige andere Mädchen wollen sich lieber auf den Abend vorbereiten. Wenn mit dem Grafen Karl alles gut geht, soll ein großes Gauklerfest stattfinden. Dafür wurden in den vergangenen Tagen schon eifrig akrobatische Kunststücke, Jonglagen (das sind Kunststücke, bei denen jongliert wird) und vieles Anderes eingeübt. Die Mädchen basteln aus alten Papiertüten und leeren Klorollen lustige Kopfbedeckungen, die sie mit viel Farbe bemalen.

Fortsetzung folgt:
Wenn Ihr wissen wollt, wie das Abenteuer mit Graf Karl ausging, erzählen wir es Euch gerne am Lagerfeuer! Oder Ihr erlebt es selber und trinkt ein Schlückchen Zaubertrank …“

(Bericht von Maren von Klitzing aus dem Emil-Grünbär Magazin 4/97)